EINSATZ AUF BOIPEBA
Ich bin nicht aus dem zahnmedizinischen Berufsumfeld, aber seit vielen Jahren Schatzmeisterin des Vereins und Lebenspartnerin von Utz Wagner, unserem ersten Vorsitzenden. Um so mehr habe ich mich gefreut, dass ich nach langer Zeit mal wieder „dabei sein“ durfte! Zusammen mit Jörg Schmoll, Carolin Lange und Michaela Weber waren wir das erste Team in diesem Einsatzzyklus der AZB. Das Dentomobil (DM) musste auf die kleine Insel Boipeba, etwa 200 km südlich von Salvador/Bahia gebracht und dort für die zahnärztlichen Behandlungen aufgebaut werden.
Gleich am Morgen nach unserer Ankunft aus Deutschland brechen wir fünf zusammen mit Gerd Pfeffer im DM von Salvador Richtung Valenca auf. Um uns den weiten Weg rund um die Allerheiligen-Bucht zu sparen, setzen wir im Hafen von Salvador mit der Fähre zur Insel Itaparica über und folgen der schönen, mit Dattelpalmen und Kakaobäumen gesäumten Strecke weiter bis Valenca, wo wir schon am frühen Nachmittag eintreffen. Valenca ist ein übersichtliches, bahianisches Küstenstädtchen mit zwei einfachen Pousadas und ein paar kleinen Restaurants. Wir müssen uns etwas durchfragen, um einen bewachten Parkplatz für das DM zu finden. Aber die Nacht ist sehr kurz.
Wochen vorher hat Gerd Pfeffer bereits eine spezielle Fähre organisiert, die uns in dem einzigen Hafen abholt, von dem man Boipeba per Schiff erreichen kann. Der Hafenort heißt Torrinhas und liegt wiederum auf der Insel Cairu, zu der aber eine kleine Brücke vom Festland hinüber führt. Die Fahrt von Valenca bis Torrinhas schätzt Gerd auf drei Stunden, die letzten 20 Kilometer führen allerdings nur noch über Erdstraßen, die in Brasilien tückisch sein können! Wir sollten pünktlich um acht Uhr morgens in Torrinhas ankommen, weil der Tidenhub dann am höchsten steht. Der Meeresarm, der Cairu mit Boipeba verbindet, hat nur geringen Tiefgang und unser DM wiegt mit Ladung ca. 3,5 Tonnen.
Eine problemlose Überfahrt hängt also von einigen wichtigen Faktoren ab. Auf der Fahrt erfahren wir kurzfristig über Handy, dass die geplante Fähre am Vortag auf einer Sandbank aufgelaufen ist, nun aber alternativ eine andere käme. Gerd macht das etwas nervös, weil Maße und Gewicht des DMs mit der organisierten Fähre abgestimmt waren und auch die Länge der Auffahrtrampe passte.
Wir sind bis auf ein paar Minuten pünktlich in Torrinhas und fast zeitgleich läuft auch unsere Fähre ein. Das Anlegen am schmalen, betonierten Landesteg funktioniert reibungslos, das Schiffsheck ist groß und das DM passt in der Höhe gerade unter den Mastbaum, der im vorderen Teil für ein Sonnensegel angebracht ist.
Alles wunderbar – wir jubeln! Wir legen ab zur dreistündigen Überfahrt bei gleißendem Licht durch den von Mangroven gesäumten Meeresarm. Unser Kapitän begrüßt uns mit einem herzlichen Lächeln und vielen schwarzen Zahnlücken. Er ist ein erfahrener, alter Hase, der jede Sandbank genau kennt. Das gleißende Licht täuscht; obwohl der Oktober ein vergleichsweise milder Frühjahrsmonat in Brasilien ist, holen wir uns alle einen leichten Sonnenbrand und sind froh, als unser Zielort Boipeba Velha endlich in Sichtweite ist. Der Ort liegt direkt an einem langen Palmen-Strand, eine Art Hafenkai gibt es nicht. Geplant ist, die Rampe der Fähre am flachen Ufer ab zu senken und das DM über den festen Strand auf den nahe gelegenen Dorfplatz zu fahren. Aber schnell ist klar, dass das so nicht gelingen wird: Die Fähre kommt nicht nah genug ans Ufer, die Rampe ist zu kurz, der Winkel zu spitz. Das DM würde bei der Abfahrt aufsetzen.
Aber bei dem kurzen Manöver springt ein neuer Passagier an Bord. Er heißt Achim und hat schon eine andere Idee. Achim ist Deutscher und lebt seit Jahrzehnten auf der Insel Boipeba. Er engagiert sich in einer privaten Bürgerinitiative für die Inselbewohner. Über ihn entstand der Kontakt zu Gerd und die Verbindung zur einigen Verwaltungsstellen, mit deren Unterstützung wir unseren Behandlungs-Einsatz koordinieren konnten.
Achims ‘andere Idee’ ist ein Anlegeplatz etwa zehn Kilometer weiter westlich mit höherem Uferrand, wo auch andere Lieferboote regelmäßig schwere Fracht wie Ziegel oder Zement auf der Insel abladen. Als wir dort ankommen, wird gerade ein Schiff entladen. Die Arbeiter wundern sich sehr über unsere Fracht. Es gibt nämlich auf Boipeba keine Fahrzeuge, also eigentlich auch keine Straßen, nur Feldwege, die von wenigen Traktoren für die Landwirtschaft genutzt werden. Ansonsten erledigen Pferdekarren die Zulieferung der Privathaushalte, der kleinen Geschäfte und der Restaurants. Nachdem geklärt ist, wer wir sind und dass wir eine Genehmigung haben unseren Behandlungs-LKW auf die Insel zu bringen, hagelt es gleich erste Terminanfragen und ob wir auch Wurzelbehandlungen durchführen und wie lange wir bleiben werden und wo man sich für einen Termin anmelden muss….
Außerdem stehen sofort alle Mann zur Verfügung, um bei dem doch etwas komplizierten Manöver zu helfen und nach drei Anläufen haben wir unser DM dann erfolgreich an Land! Ich bin etwas müde und freue mich, dass wir jetzt in ein paar Minuten auf dem Dorfplatz stehen werden, um das DM für die nächsten zwei Monate einsatzbereit aufzubauen. Weit gefehlt, denn jetzt fängt der Spaß erst richtig an: Den ersten Abschnitt durch tiefen Sand meistert Gerd souverän ohne stecken zu bleiben, obwohl wir keinen Vierradantrieb haben. Aber dann kommt der erste krumm gewachsene Baum, der uns auf engstem Weg die Durchfahrtshöhe verweigert. Wir müssen alle aussteigen und Gerd bei seiner Millimeter-Fahrt assistieren.
Nach ein paar Wegbiegungen erreichen wir erste Häuser und mit der Zivilisation auch extrem tief hängende Stromkabel. Utz ist der Größte und hat fortan die Aufgabe, vor uns her zu laufen und mit einem Besen sämtliche Stromkabel für die Durchfahrt hoch zu halten. Die neugierige Dorfjugend wird auf uns aufmerksam, tummelt sich um das DM und fragt uns andauernd Löcher in den Bauch. Endlich am Ortsrand von Boipeba Velha angekommen, haben wir zwar Kopfstein gepflasterte Gassen, aber die schattenspendenden Überdachungen der Häuser ragen teilweise so weit über, dass es mehrere Minuten dauert, bis wir eine einfache Kurve gemeistert haben.
Es ist Sonntag. Kleine Bars, an denen wir vorbei kommen, sind gut besucht. An einer Mauer lehnen zwei junge Dorfpolizisten, schick uniformiert. Ihre glänzenden Cross-Motorräder stehen demonstrativ vor der Bar und versperren uns den Weg. Auch sie sind über unsere Ankunft nicht informiert worden und bitten uns freundlich um Auskunft. Nachdem Gerd den Zweck unseres Besuchs ausführlich erklärt hat, eskortieren uns beide stolz das letzte Stück bis zum Dorfplatz.
Inzwischen ist es früher Nachmittag. Das DM für einen Behandlungseinsatz klar zu machen, dauert einige Stunden. In den Tropen wird es bereits gegen 18 Uhr dunkel und wir brauchen das Tageslicht. Der Dorfplatz ist eine grüne Wiese, etwa so groß wie ein halbes Fußballfeld. Wir wählen einen Standort, der neben dem örtlichen Gesundheitsposten liegt, um den dortigen Wasseranschluss zu nutzen. Außerdem muss der Untergrund eben sein. Gewissenhaft stellen wir das DM mit Hilfe einer Wasserwaage und Gerds geschätztem Augenmaß „ins Wasser“ und sichern es mit seinen vier Metallstützen, bevor wir die schweren Seitenflügel ausklappen können.
Mit offenen Flügeln ist der Innenraum drei mal so groß und es entsteht ein sehr geräumiges und helles „Behandlungszimmer“. Nur in der Mitte des Laderaumes ist eine einfache Zahnarzteinheit fest installiert. Rechts und links davon kann auf einer Art Liegestühlen flexibel behandelt werden. Sämtliches Behandlungsbesteck, Geräte, Beleuchtung, Medikamente, Anästhetika etc. werden in schweren, abschließbaren Metallkommoden transportiert, wie sie die Armee benutzt. Außerdem gibt es bei einem längeren Einsatz, wie diesem, einen sehr großen Vorrat an Papierrollen, Handschuhen und Reinigungsmitteln. Bis auf den fest installierten Stuhl müssen wir das DM zu aller erst komplett leer räumen, um die schweren Seitenflügel von innen mit einem Metallgerüst zu stützen. Danach werden mit dem Kärcher die Innenwände und Böden gründlich gesäubert, später auch die Außenwände. Auf dem Dach des Fahrerhauses stellen wir unseren großen Wassercontainer auf, schließen den Schlauch an und lassen schon mal ordentlich laufen, denn es dauert, bis der Container voll ist. Unter dem DM verstauen wir den Kompressor.
Beim erneuten Einräumen aller Utensilien sind die junge Zahnärztin Manuela und die Assistentin Carolin besonders gefragt, denn sie müssen später genau wissen, was alles da ist und vor allem, wo man es schnell findet! Wir haben alle seit dem frühen Morgen nichts gegessen und ich organisiere Kekse und kalte Getränke.
Während wir fleißig aufbauen, kommen viele Menschen am Dorfplatz vorbei und fragen uns, woher wir kommen, was wir machen und wie lange wir bleiben werden. Wenn sie merken, dass Carolin und Michaela kein portugiesisch sprechen, finden sie das amüsant, weil sie sich nicht vorstellen können, wie das später bei den Behandlungen funktionieren soll. Aber da kann ich alle beruhigen. Bei unseren Teams ist immer eine Person dabei, die übersetzen kann. Da wir an dem Sonntag nicht mehr mit den Elektrikern rechnen können, die uns einen direkten Anschluss am nächsten Strommast installieren sollen, legt Gerd eine provisorische Leitung zu einem Nachbarhaus, damit wir vor Sonnenuntergang Beleuchtung und Geräte wenigstens einmal testen können. Juhu – alles funktioniert, auch der Kompressor! Eigentlich wollen wir am Montag morgen sofort schon mit den Behandlungen starten. Noch wissen wir nicht, dass das nicht klappen wird, weil noch ein paar organisatorische Dinge mit den helfenden „Engeln“ aus dem örtlichen Gesundheitsposten besprochen werden müssen.
Auch kommen die Elektriker nicht, wie versprochen, gleich am nächsten Morgen. Was soll’s! Wir sind hier eben nicht in Deutschland! Und jetzt haben wir auch erst mal Feierabend und großen Hunger. Wir schließen das DM ab und folgen Achim über einen langen, weißen Sandstrand in seine Pousada, während sich am Horizont ein märchenhaft, tropischer Sonnenuntergang ins Meer versenkt. Auf uns warten ein köstliches, typisch bahianisches Abendessen und einige Caiprinhas.
Clarissa Delpy aus Boipeba